Interview mit Brenda Davis (deutsch)

English   castellano   (November 2009)

Brenda Davis ist Ernährungswissenschaftlerin aus Kanada und Mitautorin von mehreren Büchern zum Thema vegane Ernährung (u.a. dem Klassiker Becoming Vegan). Sie leitete ein Diabetes-Forschungs-Projekt auf den Marshallinseln, hält Vorträge über vegane Ernährung und zum Thema Krankheistprävention. Brenda Davis ist eine der anerkanntesten Expertinnen weltweit auf dem Gebiet der veganen Ernährung.
ihre Website: brendadavisrd.com

1) Seit wann bist du Vegetarierin und seit wann vegan?
Ich wurde 1989 Vegetarierin (98% vegan) und wurde dann im Jahr 2000 vollkommen vegan.

2) Warum hast du dich dazu entschlossen vegan zu werden und warum wurdest du Ernährungswissenschaftlerin?
Ich wurde mit einem gewissen Einfühlungsvermögen für Tiere geboren, aber das stumpfte dann ab, während ich aufwuchs, wie das bei vielen Leuten geschieht. Verschiedene Einflüsse halfen mir dabei, dieses Einfühlungsvermögen als Erwachsene wiederzufinden. Das vielleicht prägendste Ereignis, das mir den letzten Anstoß gab, war ein Gespräch mit einem Freund 1989. Diese Person war nicht jemand, bei dem man vermuten würde, dass er einen zu dieser Art von Umstellung inspirieren würde. An einem recht gewöhnlichen Tag rief dieser Freund mich an, um zu fragen, ob er auf einen Kaffee vorbeikommen könnte, bevor er auf die Reh-Jagd ging. Obwohl ich zusagte, dachte ich gleich darüber nach, wie ich ihm so viele Schuldgefühle wie möglich einreden könnte, bevor er so eine abscheuliche Tat vollbringen würde. Nachdem wir ein paar Höflichkeiten ausgetauscht hatten, fragte ich ihn, wie er es rechtfertigen könnte, so ein wunderschönes Tier zu töten. Ich sagte, es sei nicht fair – das Reh könnte sich gegen sein Gewehr nicht verteidigen. Ich fragte ihn, ob es ihm das Gefühl gebe, ein „richtiger Mann“ zu sein, ein wehrloses Lebewesen zu erschießen. Seine Antwort veränderte mein Leben. Er sagte: „Du hast kein Recht mich zu kritisieren. Nur weil du dich nicht traust abzudrücken, heißt das nicht, dass du nicht dafür verantwortlich bist, dass jedes Mal, wenn du im Laden ein Stück Fleisch kaufst, jemand anderes für dich ‚abgedrückt‘ hat. Du bezahlst einfach jemand anderen, der für dich die schmutzige Arbeit erledigt. Das Reh, das ich esse, hatte wenigsten ein Leben. Ich bezweifle stark, dass du das gleiche von den Tieren, die auf deinem Teller landen, behaupten kannst.“ Das brachte mich zum Schweigen, weil ich tief in mir wusste, dass er absolut Recht hatte. In dem Moment schwor ich, Verantwortung zu übernehmen für die Nahrungsmittel, die ich kaufte, und herauszufinden, wie die Tiere, die ich aß, lebten. Was ich dann herausfand, war dermaßen widerwärtig, dass ich wusste, dass ich nicht länger Teil dieses grausamen Systems sein konnte. Zu der Zeit kannte ich tatsächlich persönlich überhaupt keine Vegetarier. Ich war Ernährungsberaterin im staatlichen Gesundheitsdienst und ermutigte die Menschen zu einer ausgewogenen Ernährung – einschließlich mageren Fleisches und fettarmer Milchprodukte. Wie du dir denken kannst, stand ich ein paar interessanten persönlichen und beruflichen Herausforderungen gegenüber. Zum Glück hat mich mein Mann sehr positiv in meiner Entscheidung unterstützt.
Zur zweiten Frage, ich merkte in der High School, dass ich eine Leidenschaft für alles rund ums Essen und die Ernährungswissenschaft hatte. Ich entschied mich zu versuchen, aus dieser Leidenschaft einen Beruf zu machen. Das war vor über 30 Jahren – 1978. Ich hatte Interesse an gesunder Ernährung und Vegetarismus (obwohl ich damals keine Vegetarierin war und in meinem ganzen Lebens bisher nur einen Vegetarier getroffen hatte).

3) Immer mehr Menschen auf der Welt leiden an Diabetes. Du hast ein Buch darüber geschrieben, wie man Diabetes überwinden kann. Ich denke, dass viele Menschen bei dem Thema sehr verwirrt sind und nicht wissen, was sie tun können. Könntest du uns ganz grob sagen, wie man Diabetes „besiegen“ kann?
Um Diabetes zu besiegen, muss man sich die Ursache der Krankheit ansehen – Insulinresistenz. Insulinresistenz wird durch Fettleibigkeit (besonders mit Fettgewebe am Bauch – ein großer, harter Bauch – mit Fett in und um die lebenswichtigen Organe) und durch ungesunde Ernährung ausgelöst. Medikamente helfen, die Blutzuckerwerte zu kontrollieren, aber sie helfen nicht dabei, die Insulinresistenz wieder aufzuheben, d.h. Insulinsensitivität wieder herzustellen. Der beste Weg, die Insulinsensitivität wieder herzustellen, ist, die Ernährung zu verbessern und sich mehr sportlich zu betätigen. Idealerweise, sollte man täglich ca. eine Stunde Sport machen. Die Ernährung muss so geplant werden, dass es zu einem Gewichtsverlust (wenn man Übergewicht hat), zu verbesserter Kontrolle des Blutzuckers und verminderter Entzündung kommt und eine gesunde Nährstoffversorgung wieder hergestellt wird. Um das zu erreichen, empfehle ich die folgenden Ernährungsveränderungen: 

  • eine hauptsächlich oder vollkommen pflanzliche Ernährung
  • den Verzehr von raffinierten Kohlehydraten einschränken – sowohl von Zucker als auch von Stärke
  • nur ein Minimum an gemahlenem Getreide verwenden (z.B. Mehl – verwenden sollte man stattdessen das ganze Korn, z.B. Gerste)
  • sehr hohe Ballaststoffzufuhr (35-50 Gramm pro Tag)
  • viel viskose Ballaststoffe (Leinsamen, Hafer, Gerste, Bohen, Guarkernmehl, Flohsamen)
  • eingeschränkt Fette aus gesunden Lebensmitteln (20-25% Fett – hauptsächlich aus vollwertigen Lebensmitteln wie Nüssen, Samenkernen, Avocados, Tofu usw.)
  • wenig gesättigte Fette (<7% der Kalorien)
  • keine Transfette
  • ausreichende und ausgeglichene Zufuhr von essentiellen Fettsäuren
  • hohe Zufuhr an sekundären Pflanzenstoffen und Antioxidanzien
  • niedrige Zufuhr an Oxidatoren [freie Radikale] durch die Ernährung
  • niedrige glykämische Last
  • gemäßigte Zufuhr an Kochsalz (<2,4 Gramm pro Tag).

4) Manche Menschen scheinen zu denken, dass Diabetes „gar nicht so schlimm“ ist. Könntest du uns auch erklären, was Diabetes mit sich bringt?
Wenn uns diagnostiziert wird, dass wir Diabetes haben, ist das nicht das gleiche, wie wenn uns diagnostiziert wird, dass wir Krebs in einem fortgeschrittenen Stadium haben. Aber es ist trotzdem eine schwerwiegende Krankheit, die schwere körperliche Schäden verursachen kann. Sie beeinträchtigt alle wichtigen Organe und dies wird durch schlechte Kontrolle der Blutzuckerwerte beschleunigt. Wer an Typ-2-Diabetes leidet, hat ein zwei- bis viermal höheres Risiko, an Herzkrankheiten zu sterben. Ungefähr 75% der Menschen mit Typ-2-Diabetes sterben an Herzkrankheiten. Menschen mit Diabetes haben ein 60-70% größeres Risiko Neuropathie (Nervenschäden) zu entwickeln. Dies verursacht oft Taubheit und Schmerzen in den Beinen und Füßen. Amputationen gibt es zehnmal häufiger bei Menschen mit Diabetes als in der durchschnittlichen Bevölkerung. Diabetes ist auch die Hauptursache für Nierenversagen und die am weitesten verbreitete Ursache für Blindheit bei Erwachsenen im Alter von 20-74 Jahren. Außerdem erhöht Diabetes das Risiko für Osteoporose, Alzheimer, Gehörschädigung, Zahnschäden und funktionelle Sexualstörung.

5) Könntest du uns bitte über deine Arbeit auf den Marshallinseln berichten?
Die Bewohner der Marshallinseln haben mit die höchsten Raten an Typ-2-Diabetes weltweit – fast 50% der Erwachsenen über 35 sind betroffen. Das Diabetes Wellness Project ist eine Forschungsstudie, in der die Wirksamkeit einer drastischen Veränderung der Lebensweise in dieser Bevölkerung getestet wird. Die Ernährungsweise am Zentrum war komplett vegan (obwohl es den Teilnehmern erlaubt war, nach dem ersten intensiveren, zweiwöchigen Kurs, zu Hause gekochten Fisch zu essen). Die Forschungsarbeiten begannen 2006 und sind jetzt abgeschlossen. Unsere Forschungsergebnisse sind erstaunlich und ermutigend. Die Menschen auf den Marshallinseln haben enorme kulturelle, finanzielle und umgebungsbedingte Barrieren überwunden, um erfolgreich wirkungsvolle Veränderungen ihrer Ernährungs- und Lebensweise umzusetzen. Läden und Restaurants bieten jetzt gesunde, vegetarische Optionen an. Die Regierung der Marshallinseln übernimmt jetzt das Programm als neuen Pflegestandard und hat die Leiter unseres Programms gebeten, die Planung der Verpflegung in Krankenhäusern und den Lehrplan für den Gesundheitsunterricht in öffentlichen Schulen zu übernehmen.



6) Warum sollten wir Transfette am besten vermeiden und welche Nahrungsmittel enthalten Transfette?
Transfette sind ungesättigte Fette, die von flüssigem Öl in festes Fett verwandelt wurden. Bei diesem Vorgang werden sie von flexiblen, gebogenen Molekülen in gerade, starre Moleküle verwandelt. Transfettsäuren enstehen hauptsächlich auf zwei Arten – chemisch, durch den Vorgang des Härtens, und auf natürliche Weise im Verdauungstrakt von Wiederkäuern wie Rindern und Schafen. Aus gesundheitlicher Sicht sind Transfette eine Katastrophe. Diese Fette werden in die Zellmembranen eingebaut und verändern deren Form, Flexibilität und Durchlässigkeit. Dadurch beeinträchtigen sie die Zellen stark und mindern ihre Funktionsfähigkeit. Transfette konkurrieren auch mit essentiellen Fettsäuren und hemmen somit die Aufnahme dieser in die Zellmembranen und blockieren so genau die Fette, die wir dringend brauchen. Transfette werden als zwei- bis viermal schädlicher angesehen als gesättigte Fettsäuren. Ca. 90% aller Transfette stammen aus gehärteten Fetten in verarbeiteten und gebratenen/fritierten Lebensmitteln, die restlichen 10% stammen aus Fleisch und Milchprodukten. Die konzentriertesten Quellen sind Margarine, Backfett, Cracker, Kekse, Müsliriegel, Backwaren, Kartoffelchips, Snacks und fritierte Nahrungsmittel. Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) empfiehlt, dass wir weniger als 1% der Kalorien in Form von Transfetten zu uns nehmen. Bei jemandem, der 2000 kcal pro Tag konsumiert, wären das 2,2 Gramm oder ungefähr die Hälfte der Menge, die in einem einzigen Donut oder einer mittleren Portion Pommes frites vorkommt.

7) Warum sind Leinsamen so gesund und haben Sie ein paar Tipps, um Leinsamen in unsere Ernährung einzubinden? Wie viel sollte man davon pro Tag essen?
Leinsamen enthalten die Omega-3-Fettsäure alpha-Linolensäure (ALA), Ballaststoffe, Lignane und mehrere wichtige Vitamine und Mineralstoffe. 57% der Fettsäuren in Leinsamen sind Omega-3-Fettsäuren. Die meisten Menschen nehmen nicht genug von dieser essentiellen Fettsäure auf. Leinsamen sind auch eine gute Quelle für Ballaststoffe (einschließlich löslicher Ballaststoffe), helfen Blutzucker- und Cholesterinwerte zu kontrollieren und beugen Darmträgheit vor. Leinsamen sind auch die beste Quelle für Lignane in der Ernährung. Lignane sind wirksame, vor Krebs schützende Stoffe, die dabei helfen, die Bildung von Tumoren zu verhindern.
Ideal ist, jeden Tag ca. einen Esslöffel gemahlene Leinsamen zu sich zu nehmen. Man kann seinen Bedarf an alpha-Linolensäure auch mit einem Teelöffel Leinöl decken – das Öl liefert aber keine Ballaststoffe oder Lignane, die im ganzen Leinsamen vorkommen. Man sollte die Leinsamen am besten mahlen, weil die meisten von uns unser Essen nicht gut genug kauen, um an die wertvollen Inhaltsstoffe der Samen zu gelangen, und sie dann einfach unverdaut durch den Verdauungstrakt wandern. Ganze Leinsamen machen den Stuhl sicherlich voluminöser und wenn das das Hauptziel ist, sind auch ganze Samen geeignet, aber gemahlene sollten ebenfalls gegessen werden.

8) Wie antworten Sie Leuten, die denken, dass Vitaminpräparate (oder andere Supplemente) „unnatürlich“ seien?
Wir leben in einer in vielerlei Hinsicht relativ unnatürlichen Umgebung, da wir einen hohen Standard an Hyiene haben. Auf diese Weise beseitigen wir viele Bakterien aus unserer Nahrungszufuhr. Während das bei krankheitsverursachenden Bakterien ein Vorteil ist, beseitigen wir auch nützliche Bakterien wie die Bakterien, die Vitamin B12 produzieren. Deshalb ist es unbedingt notwendig, dass wir B12 unserer Nahrung hinzufügen oder ein B12-Präparat einnehmen. Wenn wir dies vermeiden, erhöhen wir unser Risiko für einen B12-Mangel dramatisch. Das bedeutet Anämie, Nervenschäden, Magen-Darm-Probleme und erhöhte Homocysteinwerte. Wenn wir Vitamin B12 ignorieren, können wir tatsächlich viele der gesundheitlichen Vorteile einer veganen Ernährung ausradieren. Das ist meiner Meinung nach eine Tragödie, weil das der Öffentlichkeit den Eindruck vermittelt, wir müssten Fleisch essen. Als Veganer haben wir die Möglichkeit, entweder andere mit unserem Beispiel hervorragender Gesundheit zu inspirieren oder ihnen die perfekte Ausrede zu liefern, um weiterhin ein System enormer Grausamkeit zu unterstützen. Bei Vitamin D ist es ähnlich. Wer nördlich des 40. nördlichen Breitengrades [nördlich von Neapel] oder südlich des 40. südlichen Breitengrades lebt, produziert im Winter nicht genügend Vitamin D. Es ist wahrscheinlich nicht „natürlich“ für Menschen, in diesen kalten Klimazonen zu wohnen, aber wir wohnen trotzdem da. Deshalb brauchen wir während dieser Monate eine externe Quelle für Vitamin D. Wenn wir dies ignorieren, erhöhen wir unser Risiko für Osteoporose, einige Arten von Krebs, entzündliche Autoimmunkrankheiten, Depression und noch viele andere gesundheitliche Probleme.

9) Was sind gute Calciumquellen für Veganer (außer mit Calcium angereicherter Sojamilch)? Enhalten Orangen viel Calcium?
Kalzium kommt in vielen pflanzlichen Lebensmitteln vor. Oxalsäurearmes, grünes Blattgemüse (Brokkoli, Grünkohl, Markstammkohl [collard greens], Okra und Pak Choi) liefern Kalzium mit extrem guter Bioverfügbarkeit (49-61%), mit Calciumsulfat hergestellter Tofu, angereicherte Fruchtsäfte und Kuhmilch [nur zum Vergleich erwähnt] liefern Kalzium mit guter Bioverfügbarkeit (31-32%) und angereicherte Sojamilch, Mandeln und die meisten Hülsenfrüchte liefern Calcium mit mäßiger Bioverfügbarkeit (21-27%). Andere calciumreiche, pflanzliche Lebensmittel sind z.B. Feigen, bestimmte Meeresalgen und verschiedene mit Calcium angereicherte Nahrungsmittel (wie die bereits erwähnte Sojamilch). Orangen enthalten ca. 60 mg Calcium pro Orange – sie sind also keine extrem gute Quelle aber sie sind in der Tat eine Calciumquelle. Die Auswahl verschiedener calciumreicher Lebensmittel über den Tag verteilt unterstützt die Aufnahme. Oxalsäure, die in einigen Lebensmitteln vorkommt, kann die Aufnahme von Calcium aus diesen Lebensmitteln stark vermindern, d.h. Lebensmittel, die sehr viel von diesem Stoff enthalten, wie z.B. Spinat, Rote-Beete-Blätter und Mangold sind keine guten Quellen für verfügbares Calcium, trotz ihres hohen Calciumgehalts.

10) Haben Sie irgendwelche Tipps für Veganer, die gerne Ernährungswissenschaftler werden wollen?
Ja, bitte – macht das! Wir brauchen so viele vegane Ernährungswissenschaftler wie möglich. Man muss auf ein paar Debatten vorbereitet sein, auch mit den Professoren. Lasst euch nicht einschüchtern von der Voreingenommenheit zugunsten von Mischkosternährung in den meisten Bildungsprogrammen. Seid positiv und respektvoll, aber seid stark in euren Überzeugungen. Unabhängig von individueller Voreingenommenheit können wir alle voneinander lernen.